Stellen wir uns zwei Szenen vor.
Szene 1: Erwachsenendiagnostik
Ein Mann mittleren Alters sitzt auf einem Stuhl. Krawatte locker, Blick ernst, Stift in der Hand.
Der Psychiater fragt: „Haben Sie in letzter Zeit anhaltende Niedergeschlagenheit verspürt?“
Er antwortet: „Ja. Seit dem Meeting mit der Buchhaltung. Und eigentlich auch seit der Einschulung meines dritten Kindes.“
Szene 2: Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Ein siebenjähriges Kind sitzt auf einem Sitzsack. Neben ihm: ein zerknautschter Teddybär namens Horst.
Die Diagnostikerin fragt freundlich: „Und wie fühlt sich Horst heute?“
Antwort: „Horst ist traurig, weil niemand mit ihm auf dem Spielplatz spielt.“
Die Botschaft: Horst ist traurig. Ich bin Horst.
Willkommen in der faszinierenden Welt der psychiatrischen Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen – ein Kosmos voller Puppen, Elterninterviews, Bastelmaterialien und subtiler Signale. Aber was genau unterscheidet die Diagnostik bei den Jüngeren von der bei den Großen?
1. Kinder sprechen nicht – sie spielen, malen und schweigen beredt
Während Erwachsene ihre Probleme meist in wohlformulierten Sätzen erklären können („Ich glaube, ich erlebe eine depressive Episode mit somatischer Komponente“), äußern Kinder ihre Gefühle oft anders: Sie werfen den Ball nicht zufällig gegen die Wand – sie wollen vielleicht die Wand zum Reden bringen. Diagnostik bei Kindern heißt: genau hinsehen, zuhören, zwischen den Zeilen lesen.
2. Die Eltern reden
Bei Erwachsenen reicht meist: eine Anamnese, ein Gespräch, vielleicht ein Fragebogen. Bei Kindern braucht man ein ganzes Team – bestehend aus Eltern, Lehrkräften, Erziehern und manchmal der Nachbarskatze. Warum? Weil Kinder oft selbst nicht einordnen können, was mit ihnen los ist. Sie sagen nicht: „Ich habe eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung.“ Sie sagen: „Ich kann nicht stillsitzen. Aber nur in Mathe.“ Und dann meldet sich die Mutter: „Er kann auch beim Frühstück nicht stillsitzen. Oder beim Zähneputzen. Oder jemals.“
3. Die Entwicklung tanzt Cha-Cha-Cha
Kinder sind wandelnde Baustellen. (Und ja, das meine ich liebevoll!) Was gestern noch altersgerecht war, kann heute schon auffällig wirken – oder umgekehrt. Ein Dreijähriger, der mit imaginären Freunden redet? Niedlich. Ein Achtzehnjähriger, der mit seinem Stoffhasen diskutiert? Eher diagnoserelevant. Diagnostik bei Kindern erfordert also nicht nur Fachwissen, sondern auch Entwicklungskompetenz: Was ist eine normale Trotzphase – und was ein Hinweis auf emotionale Regulationsprobleme?
4. Tests, Tests, Tests (aber bitte in bunt)
Intelligenzdiagnostik, Aufmerksamkeitstests, projektive Verfahren – alles kindgerecht, versteht sich. Statt endloser Fragebögen gibt’s manchmal bunte Bilder, Rätselaufgaben oder Rollenspiele. Und wenn ein Kind im Test lieber den Hund streichelt als Aufgaben löst? Auch das ist eine wichtige Information – nämlich über Motivation, Frustrationstoleranz und Impulskontrolle.
5. Diagnosen? Ja. Aber mit Vorsicht und Herz
Während bei Erwachsenen die Diagnose oft das Ende einer Leidensgeschichte bedeutet – und ein klarer Fahrplan für Therapie und Medikamente –, ist sie bei Kindern immer mit besonderer Vorsicht zu stellen. Denn ein Stempel bleibt haften – ob nun ADHS, Angststörung oder Autismus. Diagnosen sollen helfen, nicht hemmen. Deshalb gilt: Nicht jedes zappelige Kind hat ADHS. Und nicht jedes ruhige Kind ist depressiv. Manchmal ist es einfach Dienstag.
Zusammenfassung
Psychiatrische Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen ist wie ein Puzzle aus 1.000 Teilen – viele fehlen noch, manche passen nicht, und eins hat der Hund gefressen. Aber sie ist auch: bunt, kreativ, tiefgründig – und unfassbar wichtig. Denn wer früh versteht, kann besser begleiten. Und manchmal reicht ein Blick auf Horst, den Teddybär, um zu erkennen, dass ein kleiner Mensch große Hilfe braucht.
→ Hier kommst Du zum zweiten Teil dieser Reihe: Was hat mein Kind?
→ Zum Seminar: Grundlagen der kinder- und jugendpsychiatrischen Diagnostik
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